Ich bin eine Sternentante 

Und dann hast du dich auf die Reise zu den Sternen gemacht.

Alles ging so schnell, denken war nicht möglich. Ich stand wortwörtlich neben mir.
Ein Teil von mir fühlte sich ver-rückt, ein anderer Teil von mir übernahm.

Brachte mich die 30km ins Krankenhaus.

Ins Krankenhaus

Wie ich im Krankenhaus ankam, welche Wege ich nahm, ich weiß es nicht mehr.
Ich hatte nur eine Frage in meinem Kopf: „Wie kann das passieren?“

So schnell wie es ging, wollte ich zu meiner Schwester. Ihr beistehen. Euch beistehen.
Wie die Zeit verging – schnell oder langsam – das kann ich nicht mehr sagen.

Das Zimmer der schwarzen Tränen

Ich sehe meine Mutter vor dem Zimmer stehen, und das erste, was mir auffällt: An der Zimmertür hängen schwarze Tränen.
Ein Zeichen, dass hinter dieser Tür etwas anders ist.

Andere Gefühle, eine andere Stimmung – ein schmerzlicher Abschied anstatt ein seliges Willkommen.

In meinem Funktions- und Beschützermodus war ich Teil dieses Momentes.
Diese stille Geburt dieses wunderschönen, perfekten kleinen Menschen hat uns alle für immer verändert.
Sie hat die Familie meiner Schwester verändert und auch das erweiterte Familiensystem.

Eine Geburt, still oder laut, verändert das Leben.

Als Trauerbegleiterin weiß ich heute, dass auch die Zugehörigen aus dem System sehr leiden und oft nicht wissen, wie sie helfen können.

Das Kennenlernen mit Paula

Unser Moment des Kennenlernens werde ich nie vergessen.
Da ist sie: meine Nichte Paula.

Unsicherheit überkommt mich, der Schmerz meiner Schwester wird mich verändern.
Wird uns alle verändern. Ich wünsche mir nichts mehr, als ihr diesen Schmerz zu nehmen.

Unser Moment

Dann kommt unser Moment, der mir für den Rest meines Lebens Liebe schenken wird.
Ich darf dich halten, darf ein paar Schritte mit dir gehen. Kann dich betrachten, riechen und mit dir sprechen.
Zusammen gehen wir zum Fenster, ich stelle mich vor:
„Hey, ich bin deine Ta. Ich liebe dich für immer.“

Im Hintergrund höre ich meine Schwester weinen. Mein Herz ist schwer, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.
In meinen Armen gebe ich dir Wärme und Liebe, die reichen wird, bis wir uns wiedersehen.

Der Abschied

Viel zu schnell kommt der Moment des Abschieds. Danach stehe ich neben mir, es kommt mir vor wie ein sehr schlimmer Traum.
Während ich jetzt am Schreibtisch sitze, spüre ich, wie meine Narbe aufbricht, mir die Tränen kommen und die Trauer in mir aufsteigt.

Damals wussten wir nichts über stille Geburten. Wir wussten nicht, dass wir uns mehr Zeit hätten nehmen können. Das wir Fotos und Abdrücke ihrer Hände und Füsse hätten machen können.

Ja, dass wir sie auch hätten mitnehmen können, um uns länger zu verabschieden.

Die weitere Zeit stehen wir alle neben uns. Ich möchte bei meiner Schwester sein. Instinktiv suche ich ihre Nähe, vielleicht um sie zu beschützen, um aufzupassen. Ich weiß es nicht.

Ich kann mich nicht erinnern, dass wir viel gesprochen haben. Wir haben funktioniert und uns gegenseitig durch unsere Anwesenheit geholfen.
Unausgesprochen wurde das Band zwischen uns stärker.

Was ich nach 20 Jahren sehen kann: Bei all dem Schmerz in diesem Raum, Wut und Ohnmacht, war da
Liebe und Zusammenhalt.

Heute würde ich Dinge anders machen. Mit meinem heutigen Wissen würde versuchen mehr zu sprechen.

Vor allem mit meiner Nichte, Paula´s großer Schwester.

Ich würde sie miteinbeziehen in diesen ganzen Prozess. Den, wenn ich ehrlich bin, habe ich das nicht gemacht. Überwältigt von der Trauer fiel sie aus meinem Blickfeld.

Fast 20 Jahre später reden wir das erste Mal über unsere Erinnerungen.

Meine Nichte ist mittlerweile erwachsen, studiert und ist mir nach wie sehr nah.

In einem sehr emotionalem und ehrlichen Gespräch tauschen wir uns aus.

„Wie hast du das damals wahr genommen“, frage ich sie.

Sie war erst 2,4 Jahre alt, als Paula gestorben ist. Aber sie hat wahrgenommen und erinnert sich.

Ich frage sie auch, was sie sich, mit ihrem heutigen Blick auf die Situation, gewünscht hätte.

Dieses Gespräch ist ein Geschenk, für mich als Tante und auch als Trauerbegleiterin.

Es zeigt mir mal wieder, wie wichtig es ist, im Gespräch zu bleiben und sich zuzuhören, sich auszutauschen.

Egal, wie viel Zeit vergangen ist.

Mich als Sternentante zu benennen habe ich mich lange Zeit nicht getraut.

Ich habe es mir nicht zugestanden, meiner Trauer einen Namen zu geben.

Es auszusprechen, dass ich eine Sternenichte habe und das ihr Name Paula ist, bewegt viel in mir.

Es rührt mich und zeigt mir meine Trauer, meine Narbe, die hin und wieder aufbricht.

Es zeigt mir auch, dass es mich Überwindung kostet darüber zu reden und ich stelle mir die Frage: warum?

Die Antwort ist: Die Eltern haben ihr Kind verloren. Sie sind es, die am meisten trauern. Was ist meine Trauer im vergleich zu ihrer.

Durch meine Ausbildung als Trauerbegleiterin habe ich gelernt, dass es keine Wertung in der Trauer braucht. Jede Trauer darf da sein, hat ihren Platz.

Und doch tu ich mir schwer. Möchte niemandem auf die Füsse treten. Möchte alles richtig machen.

Was ich dir und mir mitgeben möchte:

Du bist richtig so, deine Trauer darf da sein.

Du darfst darüber reden. Deiner Trauer Raum geben.

Du hast jemanden verloren und darfst traurig sein. Den es ist traurig.

Während ich diese Zeilen schreiben, kommen mir die Tränen. Mir meine Trauer zu erlauben und zu erkennen,

wie sehr ich trauere macht etwas mit mir.

Etwas Gutes. Es lässt mich erkennen, dass ich Paula vermisse und immer vermissen werde.

Das ich traurig sein darf, egal wie viele Jahre vergehen.

Mir bewusst zu machen, dass ich trauere, tut mir gut. Ich kann durch verschiedene Rituale, meine Trauer und auch meine verstorbene Nichte in mein Leben einbinden.

Rituale für die Trauer

Wir haben angefangen, an ihrem Geburtstag eine Kerze für sie anzuzünden.

Eine kleine Flamme, die symbolisch für das Leben steht, das sie hier auf Erden gehabt hätte. Es ist ein Moment der Stille und des Innehaltens, der uns hilft, Paula in unsere Mitte zu holen, auch wenn sie nicht physisch bei uns ist.

Wann immer ich mich an sie erinnern möchte, zünde ich eine Kerze an.

Tipps aus der Trauerbegleitung

  1. Gefühle zulassen und anerkennen: Jeder Mensch trauert anders, und es gibt kein richtig oder falsch in der Trauer. Es ist wichtig, die eigenen Gefühle anzunehmen, egal ob es sich um Wut, Schmerz, Schuld oder Liebe handelt. Trauer ist keine lineare Reise, sondern ein Weg, der in Wellen kommt. Erlaube dir, zu fühlen, was immer du fühlst.
  2. Sich selbst Zeit geben: Es gibt keine feste Zeitspanne, in der Trauer „vorbei“ sein muss. Erlaube dir, so lange zu trauern, wie du es brauchst. Manche Tage sind leichter, andere schwerer. Es ist wichtig, sich diese Zeit zu nehmen und nicht von sich selbst zu erwarten, „funktionieren“ zu müssen.
  3. Gemeinschaft suchen: Trauer muss nicht alleine durchlebt werden. Es kann hilfreich sein, sich mit Menschen auszutauschen, die Ähnliches erlebt haben. Trauergruppen oder Gespräche mit anderen Betroffenen geben Trost und das Gefühl, nicht allein zu sein. Oftmals versteht jemand, der den Verlust eines Kindes erlebt hat, den Schmerz auf eine Weise, die Außenstehende nicht immer nachvollziehen können.
  4. Rituale schaffen: Rituale bieten eine Struktur in der Trauer. Es kann etwas so Einfaches sein wie das Anzünden einer Kerze oder das Aufschreiben von Gedanken und Erinnerungen. Regelmäßige Rituale, wie der Besuch eines Grabes oder das Feiern eines besonderen Gedenktages, können dazu beitragen, den Verlust in das eigene Leben zu integrieren.
  5. Erinnerungen bewahren: Fotos, Briefe oder andere Erinnerungsstücke können helfen, eine bleibende Verbindung zu dem Verstorbenen zu halten. Für mich war es wichtig, Paulas Fotos nicht zu verstecken, sondern sie in mein Leben zu integrieren. Diese Erinnerungsstücke sind Brücken zu unseren geliebten Menschen, die uns daran erinnern, dass sie weiterhin Teil unserer Geschichte sind.
  6. Professionelle Hilfe suchen: Manchmal kann der Schmerz überwältigend sein, und es kann helfen, sich an eine professionelle Trauerbegleitung zu wenden. Diese Menschen sind ausgebildet, um in den dunkelsten Momenten Halt zu geben, Perspektiven zu bieten und Wege aufzuzeigen, wie man den Verlust bewältigen kann.

Abschließend möchte ich sagen, dass Paula immer ein Teil von uns bleiben wird, in unseren Gedanken, in unseren Herzen, in unseren Ritualen. Sie hat uns verändert, und diese Veränderung ist Teil unseres Lebensweges geworden.